Sonntag, 20. März 2011

Die Kinder von La Saline





Als ich das erste Mal mit den Kindern von La Saline, dem Slum am Hafen von Port au Prince in Berührung kam, fiel mir ihre unglaubliche Neugier auf. Sie malten auf die verstaubten Autofenster und warteten darauf, dass endlich die Türen geöffnet würden, gespannt darauf, ob wohl etwas für sie drinnen wäre.



Und dann war es auch so. Es wurden bunte Schachteln herausgenommen und es wurde Schokolade verteilt. Und jedes bekam auch noch etwas davon ab. Au fein, das war denn auch der Auftakt für eine Freundschaft, die ich immer wieder als eine besondere Herzlichkeit empfand, die mir bei meinen Hilfsfahrten von den Kindern entgegengebracht wurde.

Die Kinder von La Saline haben ja nur Steine, kaputte Geräteteile und Reste von Verpackungsmaterial, das ihnen als Spielzeug dient. Hat mal eines von ihnen ein rchtiges Spielzeug, z.B. ein kleines Plastikauto, dann wird es bestaunt, herumgereicht und jedes möchte auch mal damit spielen.
Aber eines haben alle im Übermass und das ist Hunger. Das grösste Problem ist die hohe Arbeitslosigkeit der Familienväter, die von irgendwoher irgendwas zum Essen herholen müssen, z.B. aus der Stadtumgebung oder vom nahen Grossmarkt Croix des Bossales, wo es alles zu kaufen gibt, besonders Gemüse, Früchte, Reis und Bohnen. Aber eben, bezahlen muss man das können. Und wer kein Geld hat, der wartet, bis die Verkäufer mit ihren grossrädrigen Lastkarren den nicht verkauften Rest wieder mit heim nehmen. Was dann noch am Boden übrig bleibt, das ist für die Ärmsten der Armen im Slum von La Saline. Das kann dann gekocht und gegessen werden. Zum Kochen aber braucht man dann wieder die traditionelle Holzkohle, die aber auch bezahlt werden muss, ein Hexenkreislauf, denn für alles braucht man Geld und das gibt es praktisch nicht. Und unpraktisch? Ja, unpraktisch gibt es Menschen, die helfen kommen.

Da gab es einen Pastor Samson Joseph von der Baptistengemeinde in La Saline, der hatte einen Nebenberuf bei einer Versandfirma, die ihm ein regelmässiges Einkommen bescherte. Und was machte dieser Pastor Joseph, er unterstützte die ganz armen Familien und sorgte dafür, dass sie zu essen hatten. Dafür gingen sie zuhauf in seine Baptistenkirche, d.h. nicht seine Kirchgemeinde bezahlte ihn, sondern er unterstützte seine Gemeindemitglieder.



Das ging solange gut, bis das Erdbeben am 12. Januar 2010 kam und seine Kirche einstürzte. Aber Pastor Joseph, der selbst bei dem Erdbeben verletzt wurde, unterstützte die armen Leute weiter und nahm jetzt sogar Kinder von La Saline in den Steingarten seines Privathauses im Stadtteil Delmas auf, die ihre Eltern verloren hatten. Weil aber die Stadt in Schutt und Asche lag, hatte er plötzlich keine Arbeit mehr und lebte von seinen Ersparnissen.

Hilfe in höchster Not
In dieser Stunde der höchsten Not, drei Tage nach dem Erdbeben, kam Hilfe von ausserhalb aus der Dominikanischen Republik. Es war wie ein Wunder. Ich hatte soeben über eine befreundete Hilfe-Partnerin von einer Familienstiftung in Erlenbach in der Schweiz eine grössere Summe erhalten mit der Massgabe, eine Suppenküche einzurichten und elternlosen Kindern ein Zuhause zu geben.

Nun war es ja so, dass in La Saline unter anderem zwei Grossfamilien leben, Familie Joseph und Familie Jeanbaptiste, die recht gut miteinander auskommen. Ich selbst hatte nur drei Wochen vorher Raymonde Jeanbaptiste mit ihren beiden kleinen Kindern Stekki und Chichi aus La Saline bei mir aufgenommen. Jetzt führte mich Raymonde direkt zu ihren Eltern nach La Saline und zu Pastor Joseph, von dem ich zu meinem Erstaunen von seinem Engagement hörte. Alles passte einfach zusammen, wie von einer höheren Hand gesteuert.


Bei meinem erstes Zusammentreffen mit Pastor Samson Joseph war auch Dra. Junette Joseph, seine Schwester mitgekommen. Sie hatte per Telefon davon gehört, dass ich einige Kisten Medikamente und Verbandsmaterial zur Wundversorgung mitgebracht hatte. Schnell hatte sie mich überzeugt, noch selbigentags auf der Plaza Santa Anna bei der gleichnamigen eingestürzten Kirche Verletzte zu betreuen. Ich übergab ihr alles und sie organisierte mit Jodny, dem Bruder meiner Raymonde, den ich kurzerhand zu meinem Stellvertreter ernannt hatte, die weitere Aktion auf dem genannten Platz unweit des Präsidentenpalastes.

Zuerst wollte ich es gar nicht glauben, als Pastor Joseph mir berichtete, er habe einen baumbesetzten Steingarten in Delmas, am Rande und oberhalb von Port au Prince, wo er dabei sei, obdachlose Kinder aus dem Armenviertel La Saline aufzunehmen. Ich hatte es mir auf der Fahrt sehr schwierig vorgestellt, einfach so Kinder aufzusammeln, zu befragen und zu entscheiden, welches Kind aufzunehmen sei und welches nicht. Hinzu hatte ich mir vorgestellt, wie schwierig es doch sei, Personal zu finden für die Betreuung. Und plötzlich war nun all dieses bereits gelöst und das Projekt schon fixfertig. Ich war und bin auch heute noch überzeugt, eine höhere Vorsehung war mit dabei und hatte schon alles geregelt. Ich willigte sofort in sein Projekt ein und übergab ihm eine Summe Geldes, um ein Begrüssungsessen für die Kinder zu organisieren.


Als ich dann nachmittags so plötzlich mit Raymonde in Pastor Josephs Steingarten stand, Kinder mit den Steinen spielten und dann in einem grossen Hauszelt die 48 Kinder mit Essen versorgt wurden, kamen mir ganz unwillkürlich die Tränen. Es war eine Stunde, die ich nie mehr vergessen werde. Ich ging von einem zum anderen Kind, gab jedem die Hand und schaute in seine Augen. Es waren bewegende Minuten. Beim Abschied versprach ich, bald wieder zu kommen.

In La Saline selbst hatte ich bei meiner ersten Hilfsfahrt die Suppenküche organisiert und mich vergewissert, was denn wirklich in diesem Armenviertel gebraucht würde. Ich machte mich mit Raymonde, meiner Partnerin, auf den Heimweg ins 600 km entfernte Las Terrenas in der Dom.Rep., wo ich zuhause bin. Zwar müde, aber voller Energie belud ich bereits am nächsten Tag wieder das Auto und war schon am übernächsten Tag wieder in Haiti, um dort meine Arbeit fortzusetzen.


Ohne weiteres Suchen konnte ich sofort und während der folgenden Hilfseinsätze meine Erdbebenhilfe 1:1 umsetzen, eine Suppenküche einrichten, ein Projekt ‚Dach über dem Kopf’ realisieren, einen Stromgenerator installieren und das Projekt ‚Jardin des Enfants’ verwirklichen.

Was ich auch tat, überall waren es die Kinder, die als erste und überhaupt am meisten von unserer Haiti-Hilfe profitierten. Eine Suppenküchen-Mannschaft war umgehend einsatzbereit und es wurde am Morgen Kaffe und Brot ausgegeben.



Hier sind es die Kinder gewöhnt,


Kaffe am Morgen zu trinken und sie tun es mit Begeisterung.

Am Mittag gibt es meist Reis mit ein wenig Fleisch und Sosse, das traditionelle Gericht auf der ganzen Insel Hispaniola oder Suppe mit Einlage, z.B. Auyama, eine wunderbar duftende Suppe aus der kartoffelähnlichen Auyama-Knolle. Anfänglich drängelten sich die Kinder und schubsten, jedes wollte zuerst dran kommen. Mit der Zeit hat sich das dann eingespielt und es bildete sich eine mehr oder weniger geordnete Schlange.


Nach der Euphorie die Ernüchterung . . .
Im Bewusstsein, dass ich dies alles nur mit der Hilfe von Freunden in der Schweiz tun konnte, hoffte ich, dass diese Hilfe auch weitergehen möge.
Aber es kam anders. Der für die Hilfszusage verantwortliche Freund in der Schweiz hatte im März 2010 einen sehr schweren Skiunfall und die anderen Stiftungsmitglieder hatten andere Prioritäten in der Familienstiftung. Die weitere Hilfe für das Gesamtprojekt wurde nach einer nochmaligen Spende gestoppt. So stand ich nun da mit Pastor Joseph, seiner Schwester Dra. Junette Joseph und den 48 Kindern und hatte die traurige Aufgabe, die Beendigung der Kinderhilfe bekannt zu geben.

Bis auf 10 Kinder wurden alle bei befreundeten Familien untergebracht. Für diese 10 Kinder aber musste eine Lösung gefunden werden. Gemeinsam mit meiner Hilfe-Partnerin in der Schweiz suchte ich eine Lösung mit einer Frauengruppe. Sie setzte sich energisch ein und brachte sechs Patenschaftsfamilien zusammen, die je ein Kind übernehmen wollten. Für die restlichen vier Kinder stand eine Lösung in Aussicht. Allerdings wünschte man von mir, dass sich die Kinder in einer Video-Botschaft zum Kennenlernen und zum Entscheid für je eines der Kinder selbst vorstellen sollten. Ich war überglücklich und organisierte umgehend am 15. Juni 2010 meine fünfte Hilfsfahrt, um die weitere Zukunft der 10 Kinder in die Wege zu leiten.



Während dieser fünften Hilfsfahrt konnte ich bei einer Messe mit dem inzwischen erkrankten Pastor Joseph in einem Behelfszelt auf dem Areal der eingestürzten Kirche in La Saline dabei sein, wobei auch die 10 Waisenkinder in der Messe mit zugegen waren. Anschliessend fuhren wir zum Steingarten von Pastor Joseph und ich erklärte den glücklichen Kindern, dass sie neue Pateneltern erhalten und inskünftig von einer Patenschaftsgruppe aus der Schweiz betreut würden. Sie haben sich alle der Reihe nach vorgestellt, wobei das Jüngste 3 Jahre und das Älteste 9 Jahre alt war.

Es war eine bewegende Zeremonie, wie sich die Kinder einzeln vorstellten. Ich habe alles auf Video aufgenommen und unmittelbar nach der Rückkehr bearbeitet und an die neuen Pateneltern gesandt. Sehr gewegend ist hierbei die Videobotschaft von Baptistenpastor Samson Joseph. Es war mein letzter Kontakt mit ihm. Er ist Anfang September 2010 an seiner schweren Krankheit gestorben.

Ich verliess die fröhliche Runde mit einer Grussbotschaft von Pastor Joseph an die neuen Pateneltern und wir fuhren beschwingt und im Bewusstsein einer guten Arbeit die 600 km wieder heim nach Las Terrenas in der Dom.Rep. Bereits in den nächsten zwei Tagen machte ich die Video-Filme fertig und sandte sie in die Schweiz zu den neuen Pateneltern. Dass anstelle dieser Pateneltern eine Frauengruppe die Patenschaft übernommen hat, sei nur am Rande erwähnt.

Patenschaften für Kinder in Not
Es wurde in der Folge immer schwieriger, Spendengelder für Haiti zu erhalten. Weil mir aber das Los der Kinder von La Saline besonders am Herzen liegt, begann ich, nach Pateneltern für besonders bedürftige Kinder zu suchen.



Als erste Familie suchte ich für die fünf Kinder von Familie Roseline Pateneltern in Deutschland und in der Schweiz. Diese Familie hat inzwischen ihre Pateneltern, die über eine Patenschafts-Community miteinander kommunizieren können.


Diese Patenschaften funktionieren ja so, dass die Patenschaftsbeiträge nicht an die Familie gehen, sondern an die zentrale Suppenküche. Dadurch ist sichergestellt, dass die Kinder ihre täglichen Mahlzeiten erhalten. Dass die Kinder auch ihren Eltern Essen mit nach Hause bringen, ist durchaus erwünscht.

Für weitere Patenschaften wird im Blogspot ‚Patenschaften für Kinder in Not’ http://kindervonlasaline.blogspot.com/ geworben.
Dann brach am 21. Oktober 2010 die Cholera am Artibonitefluss in Haiti aus. Mir war sofort klar, dass sie sich im ganzen Lande verbreiten würde. Als Gegenmassnahme suchte ich den vorbeugenden Schutz in Form von Hygienemassnahmen, zu denen insbesondere Essen und Trinken gehören, also Verstärkung der Suppenküche, die ja die ganze Zeit mit wenigen Unterbrechungen weitergelaufen war.
Es sind ja insbesondere die Kinder, die der Cholera weniger Widerstand entgegensetzen können und bei Ausbruch rasch dehydrieren und sterben.
Andererseits sind es ja wieder besonders die Kinder, die mit geringer Hygiene auf den Strassen in Berührung kommen und daher gefährdet sind.
Hans Joachim Badzong